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Call for Papers
zur 34. Jahrestagung der Gesellschaft Junge Zivilrechtswissenschaft e.V. vom 25. bis 27. September 2024 in Göttingen.
Disruptionen im Privatrecht
Zunehmend trifft man in privatrechtlichen Diskursen auf den Begriff der Disruption. Dabei scheint es um mehr zu gehen als den Hinweis auf einen stetigen Wandel, der dem Recht immanent ist. Angelehnt an die Übersetzung aus dem Englischen stehen im Raum vielmehr Umbrüche und Diskontinuität, sprich: fundamentale Paradigmenwechsel. Die 34. Jahrestagung der Gesellschaft Junge Zivilrechtswissenschaft widmet sich daher ganz der Frage, welchen Disruptionen sich das Privatrecht aktuell tatsächlich ausgesetzt sieht und in welchen Fällen – auch entgegen bisherigen Annahmen – bei genauerer Betrachtung gerade nicht von einer Disruption auszugehen ist.
Anknüpfungspunkte für die (vermeintlichen) Disruptionen im Privatrecht bieten sowohl sich verändernde Realitäten als auch normative Strömungen, die im Privatrecht wirken.
Prominent ist dabei etwa die umfassende Digitalisierung vieler Lebensbereiche, deren disruptive Wirkung auf das Privatrecht beispielsweise vor wenigen Jahren mit Aufkommen der Blockchain-Technologie betont wurde und mittlerweile ganz im Zeichen Künstlicher Intelligenz steht. Zunehmend für das Privatrecht relevante Realitätsveränderungen sind daneben etwa das Bedürfnis nach Klimaschutz und Nachhaltigkeit oder auch die sich verändernden Familienstrukturen und anderen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Gerade neue Unionsgesetzgebung und diverse neuere rechtswissenschaftliche Strömungen, wie beispielsweise die Bewegung Law & Political Economy, werfen auch mit neuer Brisanz die Frage nach dem Selbstverständnis des Privatrechts auf. Die Grenze zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht scheint immer mehr und immer selbstverständlicher zu verschwimmen. Ein disruptiver Systemwandel scheint unaufhaltsam.
Die Bedeutung des Privatrechts wird aber auch anderweitig hinterfragt. Der Zivilgerichtsbarkeit wurde erst kürzlich erneut ein Bedeutungsverlust attestiert. Privater Macht, wie sie gerade Online-Plattformen innehaben, folgen private Regelungen und private Streitbeilegungsmechanismen. Privates Recht wird zum geflügelten Wort. Normativität und Faktizität werden neu ausgelotet. Eine bewusst herbeigeführte Diskontinuität des Privatrechts ist vor diesem Hintergrund möglicherweise sogar gerade erforderlich.
Disruption im Privatrecht ist aber auch über die genannten Bereiche hinaus diskussionswürdig. In Anerkennung der enormen Vielfalt und Breite des Generalthemas werden im Folgenden einige konkretere Ideen skizziert. Diese bieten nur einen Denkanstoß und sollen die Spannweite der eingereichten Beiträge keineswegs begrenzen.
Disruption & Technologie
Wohl kaum ein technologisches Phänomen hat in den letzten Jahren gleichermaßen so viel gesellschaftliche wie auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten wie KünstlicheIntelligenz. Paradigmatisch für den Durchbruch sog. Large Language Models und insbesondere generativer KI-Modelle ist etwa ChatGPT, welches bereits Pate für die Entwicklung spezifischer generativer Sprachmodelle in der Justiz und für die Anwaltschaft steht. Das Urheberrecht ist nur eines von vielen Rechtsgebieten, dessen Grundprinzipien angesichts der Kapazitäten Künstlicher Intelligenz zu hinterfragen sind. Das disruptive Potenzial solcher Modelle für das Privatrecht ist groß. Im gleichen Atemzug wird der Handel mit Daten als Grundlage solcher datengetriebenen Geschäftsmodelle und mit ihm das Datenwirtschaftsrecht als Rechtsrahmen immer relevanter. Potenziell disruptive Wirkungen für das nationale Privatrecht könnte hier beispielsweise das im Data Act normierte Datenzugangsrecht entfalten. Disruption ist mit Blick auf die Plattformökonomie ferner dort zu erwarten, wo eine Art unmittelbare Drittwirkung großer Online-Plattformen schon vor der Tür zu stehen scheint.
Disruption & Ökologie
Während die ökonomische Analyse des Privatrechts bereits seit Jahren Legion ist, erlangt auch die ökologische Analyse stetig mehr Aufmerksamkeit. Dabei zeigt sich, dass viele privatrechtliche Regelungen – gerade Verbraucherrechte – Klimaschutz- und Nachhaltigkeitszielen entgegenstehen. Ist das Privatrecht vor diesem Hintergrund, nicht zuletzt auch mit Blick auf den Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts, insgesamt radikal neu zu denken? Wie lassen sich ökologische Ziele über ESG und Corporate Social Responsibility hinaus vor allem im Gesellschaftsrecht verwirklichen?
Gesellschaftliche Disruption
Die Covid-19-Pandemie kann als Paradebeispiel einer (zeitweiligen) umfassenden gesellschaftlichen Disruption angeführt werden. Auch im Privatrecht wurde in kürzester Zeit gesetzgeberisch darauf reagiert. Zunehmend finden sich Analysen dieser Reaktionen. Auf übergeordneter Ebene hat die Frage nach innovativen Methoden der Rechtssetzung wie beispielsweise durch regulatorische Sandboxes erneut Aufwind erfahren. Diese Methoden ließen sich gerade auch mit Blick auf weniger abrupte, dafür aber langanhaltendere gesellschaftliche Entwicklungen fruchtbar machen. Exemplarisch können allein das Neuverständnis von Arbeit als Selbstverwirklichung oder die Veränderungen gesellschaftlicher Formen des Zusammenlebens und das auch im Recht gegebenenfalls notwendige Neuverständnis der Familie genannt werden.
Normative Disruption
Untersuchungen legen nahe, dass die Durchsetzung des Privatrechts durch die Zivilgerichtsbarkeit in manchen Bereichen zum Ausläufermodell geworden ist. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Will die Zivilgerichtsbarkeit diesem Bedeutungsverlust (der mittelbar auch dem materiellen Privatrecht gilt) entgegenwirken, wird sie gegebenenfalls selbst einen Umbruch herbeiführen müssen. Ansätze wie die Entwicklung von sogenannten Commercial Courts zeigen bisher nicht die erhoffte Wirkung. Großes Potenzial könnte hingegen in der Einbindung Künstlicher Intelligenz in Form von generativen Sprachmodellen liegen, deren technische Möglichkeiten und rechtlicher Rahmen nach wie vor genauer zu bestimmen sind. Parallel dazu stellt sich noch immer die Frage, wie ein umfassendes Modell der normativen Integration privater Regeln in das Privatrecht aussehen könnte.
Organisatorische Hinweise
Bewerbungen sind bis zum 30. April 2024 an gjz2024@jura.uni-goettingen.de zu richten. Sie sollen enthalten:
ein anonymisiertes Abstract mit maximal 500 Wörter und
einen Lebenslauf
Erfolgreiche Bewerber:innen werden eingeladen, auf der Tagung einen ca. zwanzigminütigen Vortrag zu halten. Außerdem ist beabsichtigt, die Beiträge der Eingeladenen in einem Tagungsband zu veröffentlichen. Das Manuskript ist deshalb bis zum 6. September 2024 einzureichen.